AGBeratung

Nicht zusammen, aber doch gemeinsam

05.11.2024

Alle so wie sie wollen und können. Oder um den berühmten Satz zu bemühen: „Jede*r nach ihren Fähigkeiten, jeder*m nach ihren Bedürfnissen“. Diesen anspruchsvollen und wertschätzenden Grundsatz legen die meisten Kollektive an ihre Zusammenarbeit an. Entsprechend komplex sind oft die Gebilde, die entstehen.

Es gibt kollektive Vorhaben, welche die existenzielle Lebensgrundlage bilden und dadurch die ‚Sahnestückchen‘ der Lebenszeit abbekommen. Und es gibt Projekte, die neben Lohnarbeit, Care-Arbeit und anderen Herzens-Projekten betrieben werden. Und letztlich gibt es Mischformen, bei denen es sowohl das eine, als auch das andere gibt. Dies hat in aller Regel zur Folge: u.a. ungleiche zeitliche Kapazitäten und persönliche Präsenz, sehr unterschiedliche ökonomische Abhängigkeiten und diskontinuierliche Beteiligung der einzelnen Kollektivmitglieder.

Unvermeidbar entstehen durch die unterschiedliche Eingebundenheit in den kollektiven Prozess Gemengelagen, die zu Genervtheit, Frust und schlechtem Gewissen führen. Die einen wollen gerne, dass das Plenum tagsüber stattfindet, es mehr Zeit zu inhaltlicher Auseinandersetzung und Reflexion gibt. Die anderen können aber nur abends. Oder die einen werden ungeduldig, weil Prozesse nur langsam vorangehen und andere sind davon eher überfordert. Einige fühlen sich in Entscheidungsprozessen zu wenig beteiligt, anderen ständig blockiert. Und nicht zuletzt, weil die Verantwortung und praktische Mitarbeit für die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Kollektivs ungleich verteilt ist oder zumindest so empfunden wird.

Unterschiedliche Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse auszuhandeln gehört zu den Kerntätigkeiten von Kollektiven. Das macht ihre Stärke aus und macht sie zugleich so herausfordernd. Je ungleicher die Beteiligung ist, desto mehr sind Gruppen gefordert, hier ihr ganzes Können einzusetzen bzw. sehr große Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

Zuerst geht es darum, ein gemeinsames Bild und Bewusstsein für die Situation zu bekommen. Das ist ungleich viel schwieriger, als in Konstellationen, in denen alle ähnlich finanziell abhängig oder zeitlich involviert sind. Es bedarf viel Empathie und Perspektivwechsel, um die grundlegend unterschiedlichen Ausgangslagen nicht aus dem Blick zu verlieren. Um sich gegenseitig zu verstehen braucht es eine bewusste und geduldige Anstrengung aller.

Auch wenn es ein Widerspruch scheint: im Rahmen der gemeinamen Arbeit braucht es ausreichend festgelegte Zeiträume, um sich darüber auszutauschen, wie die abweichenden individuellen Wünsche, Erwartungen und Bedingungen in ein gemeinsames Konzept einzubinden sind.

Kreative Lösungen und pragmatisch organisierte Betriebsabläufe sind dabei unverzichtbar. Da der Workload unterschiedlich verteilt ist, heißt das auch, dass sich Einzelne unterschiedlich tiefgreifend mit einzelnen Themen beschäftigen, Erfahrungen sammeln und sich Wissen/Können aneignen. Ungleiche finanzielle Abhängigkeiten zu haben, bedeutet mit unterschiedlichem Druck zu arbeiten, sich zu beteiligen. Unterschiedlich viel Zeit im kollektiven Rahmen zu verbringen, bedeutet, dass die einen andauernd neue Ideen haben, die sie umsetzen wollen. Andere sind davon gestresst, weil es dadurch keinen gleichmäßig kalkulierbaren Ablauf gibt.

Zu den Konsequenzen gehört, dass es Übung in kreativer Lösungsfindung braucht: Wie kann es gestaltet werden, dass die einen im intensiven Austausch sein können und andere nicht den Anschluss verlieren? Wie werden Verantwortlichkeiten und ggf. auch Entscheidungsmacht so verteilt, dass man sich nicht behindert und nicht überfordert wird?

Ein praktischer Ansatz ist z.B. die ‚Entscheidung der Aktiven‘. Dabei werden Entscheidungen von denen getroffen, die laufend aktiv die Kollektivarbeit erbringen und gestalten. Dazu gehört viel Vertrauen der Kollektivmitglieder untereinander und ein grundlegender Konsens über die Haltung und Umsetzung der Zusammenarbeit.

Andere Möglichkeiten sind thematische Arbeitsgruppen, Plenas in unterschiedlicher Zusammensetzung, z.B. Kernkollektivplena mit Satelliten. Und immer wieder notwendig und hilfreich, um die gegenseitigen Erwartungen anzupassen: Die regelmäßige gemeinsame Reflexion, gemeinsame Freizeit und eine verbindliche Planung, wer in welchem Umfang bei welchen Aktivitäten dabei ist. Der erste Schritt dabei ist die Klarheit für sich selbst und der Abgleich zwischen allen: Was will ich und was kann ich tatsächlich zu unserer solidarischen Zusammenarbeit beitragen.

Wir arbeiten gemeinsam an einer besseren Welt, aber nicht immer zusammen!

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