Ist mir doch sch…egal!
27.02.2021„Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert!“ – Dieser Spruch des sogenannten Volksmundes stammt keineswegs ursprünglich aus der Lebenswelt selbstverwalteter und basisdemokratischer Versuche. Doch leider begegnen uns als externe Berater*innen nicht selten Verhaltensweisen, die dieser ernüchternden Lebensweisheit Nahrung geben. Nicht nur von einzelnen, frustrierten Mitgliedern, durchaus auch von größeren Teilen einer zuvor noch bestehenden Gemeinschaft. In zugespitzten Konfliktsituationen scheinen – in einigen Fällen – viele ihre solidarische, konsensorientierte und sozialverträgliche ‚Kinderstube’ vergessen zu haben. Mitunter sehen sich alle Beteiligten urplötzlich in einer feindlichen Dynamik. Und das beobachtende Umfeld reibt sich die Augen: wie kann das passieren…und das auch noch in einem ‚unserer’ Projekte? Und nicht nur zu Corona-Zeit!
Ja, wie kann das passieren? Hintergründe und Anlässe für schleichende oder manifeste Problem- und Konfliktlagen in Gruppen wurden an dieser Stelle wiederholt und umfassend in zurückliegenden Jahren beleuchtet. Diese sind nun wirklich vielfältig und erneuern sich ständig durch unseren Alltag: Generationswechsel, ökonomische Engpässe, Anpassungen an Marktgesetze, geänderte Rahmenbedingungen, Fluktuation, veränderte Lebensumstände, informelle Hierarchien, ungleiche Verantwortung, usw.. Doch warum eskalieren nicht selten Konflikte derart, dass die streitenden Parteien unversöhnlich und unerbittlich agieren? Also ob sie nicht zuvor z.T. seit Jahrzehnten Seit’ an Seit’ gearbeitet oder gelebt hätten…
Wir erleben, dass in extrem empfundenen Situationen auf Verhaltensmuster zurückgegriffen wird bzw. diese automatisch ablaufen, die von der zuvor gelebten und erlebten Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit offenbar gänzlich unberührt geblieben sind. Es scheint so, dass die gemeinsamen Erfahrungen nur einen sehr begrenzten Tiefgang haben und das innere Erleben nicht erreichen konnten. Ein anderer Stil des Umgangs wurde offenbar nicht wirksam verankert.
Genau genommen bereiten wir mit unseren solidarischen Ansprüchen täglich den Boden für heftige und emotionale Reaktionen: sich menschlich nahe kommen, gegenseitiges Vertrauen, sich aufeinander verlassen, kraftvoll die gleichen Ziele verfolgen, Risiken eingehen, sich mit Schwächen begegnen. Je mehr das gelingt und versucht wird, je größer ist das Risiko für Frustration, grundlegender Enttäuschung, tiefgehender persönlicher Kränkung. Wenn sich das gemeinsame Handeln z.B. als Täuschung und reines Wunschdenken entblättert. Oder sich Menschen und Bedingungen unterwegs unbemerkt grundlegend verändert haben.
Als Tabuthema gilt allerdings auch, dass einige unsere Mitstreiter*innen aus ihrem ‚Vorleben’ psychische Prägungen mitbringen, die in einem funktionierendem Kollektiv zwar oft gut aufgehoben sind und kompensiert werden. Kann dieser soziale Ausgleich z.B. durch Veränderungen in den Gruppenfunktionen oder -zusammensetzung nicht mehr garantiert werden, treten diese deutlichst erkennbar hervor. Und sind nicht selten kaum noch angemessen zu begegnen. Jedenfalls nicht mit den vorhandenen Ressourcen einer nichttherapeutischen Gemeinschaft. Selbst Mediation oder Supervision kommen zu spät.
Maßlose Forderungen, abseits jeglicher verabredeter Grundsätze, unauflösbarer Streit zwischen Einzelnen, Geld- und Materialentnahmen, egoistische Sicherung von Vorteile, Verweigerung, etc. können die Folge sein. Von außen betrachtet sieht das häufig nach ‚Schmerzensgeld’ aus oder soll den nominierten Gegner demütigen.
In unseren Gruppen und Projekten gibt es davor letztlich keinen verlässlichen Schutz. Nicht jeder aufflammende Streit ist solidarisch oder ausgeglichen beizulegen, leider nicht!
Erhöhte Chancen haben Gemeinschaften, Betriebe und Häuser, die ein solidarisches, freundschaftliches Umfeld pflegen. Projekte, die Transparenz, Beteiligung und Einblick Außenstehender im Alltag praktizieren und/oder Kooperation mit anderen Gruppen zu ihrem selbstverständlichen Strukturmerkmal zählen. Nicht immer, aber es bietet die Möglichkeit, dass Dritte mäßigend, schiedsrichterlich oder notfalls trennend von außen eingreifen können. Oft der einzige Weg. Denn die eigenen Kräfte sind in aller Regel aufgebraucht. Und welche*r Streiter*in will es sich gleichzeitig auch noch mit dem kompletten Umfeld verscherzen? Nicht nur dafür ist eine alltägliche, strukturelle Eingebundenheit für jede Gruppe ein Pflichtprogramm.