Die Kollektivwerdung ist ein langer Weg
07.06.2024Manchmal sitzen wir in der Beratung Gruppen gegenüber, bei denen sich alles, bzw. alle mehr oder weniger um ein einzelnes Gruppenmitglied drehen. Und es stellt sich heraus, dass es von Anfang an so war, wie es Jahre später immer noch ist: Das Projekt begann mit einer einzelnen Person, die ein Konzept entwickelt oder das Projekt alleine gestartet hat. Sie hatte die Idee, das Wissen, das Gelände, oder den Laden. Das Projekt ist ihr ‚Baby‘ und Jahre später hat sie – wirklich oder angenommenerweise, immer noch das meiste Wissen über das Projekt, den tiefsten Einblick, und sehr genaue Vorstellungen über Abläufe, Möglichkeiten und wie etwas nicht gemacht werden darf. Das Projekt ist nie ganz ein Kollektiv geworden, dass gemeinsam getragen und weiter entwickelt wird.
Es kann angenehm und durchaus gewünscht sein, in einem solchen Setting selbst nur die Aufgabe zu haben auszuführen und zuzuarbeiten. Das kann Raum bieten, sich ganz allmählich in neue Aufgabenbereiche einzufinden. Es etabliert aber auch ein Ungleichgewicht, das oft für alle Beteiligten anstrengend und unbefriedigend ist.
Oft entstehen Dynamiken, in denen die später Dazugekommenen vergeblich mit ihren Ideen und Vorstellungen gegen die dominante Person anrennen, aber einfach nicht an ihr vorbeikommen. Oder die Gründungsperson gerät in die Rolle, die anderen immer wieder anzuschieben. Ohne dass diese eine Idee entwickeln, wo sie selbstständig hinlaufen wollen. Beide Dynamiken können durchaus auch parallel bestehen – je nachdem, wen man befragt.
Die ungleichen Rollen führen oft zu Frust, Burnout und zuweilen auch zu heftigen Konflikten. Nicht selten verlässt im Zuge dieser Konflikte die Ideengeber*in das Kollektiv. Und erst dann entsteht der Raum, in dem die anderen sich die Kollektividee aneignen (müssen): Sich reindenken, eigene Ideen unterbringen, Verantwortung übernehmen für ihre Ideen und das Gesamtprojekt.
Das ist ein spannender Widerspruch: Oft braucht es die Energie, mit der einzelne für ihre Träume brennen, um anzufangen. Es braucht das Lospreschen, das andere mitreisst.
Dann aber auch wieder das Loslassen dieser Träume, in dem Sinne, dass sie sich verändern dürfen. Das auch die Ideen der anderen ausreichend Platz finden, und gemeinsam reflektiert wird, was sich verändert hat, welche Ideen noch passen und was verworfen wird.
Es ist eine große Kunst ein Kollektiv zu werden, wenn Projekte mit einem großen Ungleichgewicht an Entscheidungskompetenz und Ressourcen starten. Einzelne können viel mehr Selbstvertrauen, Wissen, Erfahrung, aber auch Geld und Eigentum einbringen. Und darin liegen große Schätze für Projekte. Gleichzeitig liegt darin auch die Gefahr, dass Verantwortung unterschiedlich stark wahrgenommen wird und Stimmen ungleich viel Gewicht erhalten.
Dann muss viel umgebaut und vielleicht auch umverteilt werden, um die Gründer*innen aus ihrer exponierten Rolle entlassen zu können: Wissen muss weitergegeben und angeeignet werden, und Aufgabenbereiche umverteilt. Vielleicht müssen auch Kredite aufgenommen werden um Einlagen umzuschichten. Und vielleicht müssen Eigentumstitel neu gestaltet werden.
Das alles geht nicht einfach. Das geht auch nicht nebenbei. Es braucht viel Zeit, immer wieder.
Die Reflexion der Rollen, die ehrliche Auseinandersetzung über Vorstellungen und Ansprüche, das Entwickeln von Verständnis und Wertschätzung füreinander sind sehr ernstzunehmende, wesentliche Aspekte der Zusammenarbeit. Es lohnt sich ihnen ausreichend Zeit zu widmen auf thematischen Plena und Kollektivtagen.
Das ist im Betriebsalltag oft nicht leicht. Neben der Einsicht braucht es eben auch zeitliche und finanzielle Ressourcen und den Mut, auch unangenehmen, vielleicht mit Ängsten oder Ärger besetzen Themen nicht auszuweichen. Denn meist sind die Veränderungsprozesse auch emotional nicht einfach. Es braucht Vertrauen und oft erhebliche Chaoskompetenz, eingefahrene Wege der Rollenverteilung zu verlassen. Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu zu verteilen, sich einzuarbeiten und die anfänglichen Fehler auszuhalten.
Dabei ist es hilfreich, wenn klar vereinbart wird, was sich alles verändern darf und was die Grundidee ist, die in Stein gemeißelt werden soll, ohne die es nicht mehr dieses Projekt wäre.
Und schließlich hilft es sich immer wieder bewusst zu machen, dass es ein ständiger und nie abgeschlossener Prozess ist ein Kollektiv zu werden und das wir da drin auch alle nur Menschen sind.