AGBeratung

Nur viele Finger bilden Fäuste

22.05.2023

»Nur gemeinsam sind wir stark!« Das ist nicht nur eine linke Binsenweisheit – und das nicht erst seit gestern, sondern der Antriebsmotor sehr vieler unserer Aktivitäten und Vorhaben. Sinngemäß steht es deshalb auch seit Jahrzehnten in vielen ›Stamm‹büchern von Zusammenschlüssen unterschiedlichster Ausrichtung. Solidarität, in seinen verschiedensten Ausprägungen, hat sich unter anderem daraus als zentraler Begriff und Zielbeschreibung entwickelt.

Der Wunsch nach alltäglicher Gemeinsamkeit in Projekten ist stets mit vielen Hoffnungen und Erwartungen verbunden: voneinander Lernen, Widerstandsfähigkeit, öffentliche Sichtbarkeit, gesellschaftliche Einflussnahme, gegenseitige Unterstützung oder bessere Problemlösungen. Und das ist nur eine kleine Auswahl.

In Wohngruppen, Hausprojekten, Initiativen, Gemeinschaften und ähnlichen Gruppen spiegelt sich das seit langem wider. Auch bei der Kooperation zwischen Kollektivbetrieben keimen diese Ideen und Wünsche einer Vernetzung seit Jahrzehnten immer wieder auf. Die wollen wir heute genauer betrachten. Branchenspezifisch gab und gibt es darin sogar eine längere geübte Tradition, unter anderem zwischen Fahrrad-, Bio- und Kaffeeläden, Gartenbau- und Metallbetrieben, Handwerker*innen, IT- und Beratungsexpert*innen, politischen Kommunen sowie Buchhaltungsfüchs*innen. Branchenübergreifend bemühen sich zum Beispiel in Hamburg, Kassel oder Berlin einige Kollektivbetriebe seit längerem um eine kontinuierliche Zusammenarbeit. Ein neuer bundesweiter Vernetzungsversuch von Kollektiven wird im April in Lübeck fortgesetzt. (siehe CONTRASTE Nr. 454/455, Juli-August 2022)

Aus dem Blickwinkel von uns externen Berater*innen konstatieren wir seit Jahrzehnten bei diesen Versuchen leider einen wiederkehrenden Ablauf. Nicht immer, doch sehr weit verbreitet: Begeisterte und engagierte Anfänge dünnen sich in der Folge sukzessive und zügig aus. Es verbleiben nach einer gewissen Zeit oft nur einzelne Kollektivmitglieder, die den Austausch praktisch und ideologisch konservieren. Und damit tragen nicht die Kollektivgruppen in ihrer Gesamtheit die gewollte Zusammenarbeit. Oft genug bleibt eine Homepage von den Bemühungen übrig oder wenige Einzelpersonen, die unter einem entsprechenden Titel aktiv bleiben. Nicht überall, wo Vernetzung drauf steht, ist auch eine lebendige Kooperation drin. Die Erwartungen sind durchgängig deutlich höher als das reale Ergebnis.

Leider, denn für uns als Berater*innen liegt eine wirksame Zusammenarbeit auch von Kollektivbetrieben im ureigensten Interesse. Sehr viele Hindernisse kollektiver Strukturen könnten mit gegenseitiger Unterstützung chancenreicher überwunden und die vorhandenen großen Ressourcen und Potenziale viel effektiver genutzt werden. Allein bei Finanzierungen werden die vorhandenen betrieblichen Möglichkeiten kaum gemeinsam genutzt. Und beim großen Potenzial an vorhandenem Wissen, Erfahrungen und Infrastruktur sieht es nicht besser aus.

Aus unserer Sicht ist der Dreh- und Angelpunkt das persönliche Kennenlernen von Kollektiven und ihren Mitstreiter*innen untereinander. Und zwar nicht allein auf Treffen oder durch Statuten, sondern im ganz konkreten Betriebsalltag, zum Beispiel durch einen gegenseitigen Austausch der Kollektivist*innen für einen Monat. Erst danach entsteht eine tragfähige Verbindung, die auf unmittelbarer und erlebter Einsicht in den Kollektivalltag basiert. Nicht nur auf scheinbar gleichen Interessen und Absichten. Jeder Austausch danach wird gezielter, vertrauensvoller und alltagstauglicher. Für die weitere Vertiefung braucht es dann ganz konkrete Arbeitsvorhaben, an denen gemeinsam und praktisch gearbeitet wird. Oder an der Lösung von erkannten und akuten Problemen. Das wäre der zweite Schritt. Nach diesen Erfahrungen kann sich dann eine weitergehende und kontinuierliche Vernetzung entwickeln, gefüllt mit konkretem und praxisnahem Erleben. Auch eine gegenseitige Offenheit, um zum Beispiel über die vielen Mängel in unseren Bemühungen zu sprechen. Denn alle kochen nur mit Wasser…

Auf diesem Weg können die größten Widrigkeiten auf dem Weg zu einer lebendigen Kooperation zumindest verkleinert werden. Damit ein Vernetzungsanlauf nicht zur Sache der kollektiven ›Außenminister*innen‹ mutiert oder in einem Verwaltungskopf endet. Damit die Arbeit daran nicht als zusätzliche alltägliche Belastung empfunden wird und bald weit vorne an auf der ToDo-Streichliste landet. Damit Erfolgserlebnisse praktisch, sichtbar und erlebbar motivieren. Damit eine solidarische Vernetzung nicht im Dickicht formaler Strukturen von Vereinen, Verbänden oder Rechtsformen verödet. Und letztlich: damit die abstrakt denkbaren und tatsächlichen Ressourcen spürbar und dauerhaft persönlich im Kollektiv wirken können.

Einen nachhaltigen Versuch wäre das doch wert, oder?

Willi Schwarz