Heute hier – morgen dort…..?
05.04.2017„Ich habe nur kurz Zeit heute…“, „Ich habe gleich noch einen Termin…..“, “Ich lass’ mein Handy mal an, weil…..“, „Ich kann jetzt doch nicht kommen, weil….“ oder „Ich komme vielleicht oder später,…!“ Nicht selten gehen Beratungstermine so los, bevor auch nur alle vor ihrem Kaffee sitzen. Und aus Gruppen- und Projekttreffen, Plena, Arbeitsgruppen und Initiativen-Treffen wird ähnliches berichtet, sehr angereichert durch die allgegenwärtige Smartphone-Epidemie: …bin kaum da – muss ich fort!
Andererseits lernen wir sie in sehr vielen Projekten als wunderbar engagierte und vielseitige Menschen kennen. Entsprechend ihre verschiedenen Interessen und Talente gehen sie parallel an diversen Orten, zu unterschiedlichen Themen und in verschiedenen Gruppierungen ihren Leidenschaften, Ideen, Visionen und Kämpfen nach. Die jährlich über 100 Projekte in Selbstorganisation in unseren Beratungen hinterlassen den Eindruck von umfassend und jederzeit vernetzten, kreativen, mutigen und optimistischen Aktivist_innen. Was für ein Luxus!
Regelmäßige Leser_innen der Kolumne ahnen was nun folgt: wir wollen und können solche sichtbaren Gegensätze nicht unkommentiert lassen. Denn das verbreitete und permanente ‚Multitasking’ und die enge Taktung des Alltages der Einzelnen beeinflusst die Strukturen, die Arbeitsweisen, die sozialen Bezüge und somit die Entwicklung von (nicht nur) selbstorganisierten Vorhaben qualitativ und quantitativ. Nicht wenige kennen und wollen ihren Alltag genau so: hier meine Wohngruppe, dort meine Arbeits- oder Kollektivkolleg_innen, woanders meine Politgruppen-Leute, mein Kreis von engen Freund_innen, mein Kulturgrüppchen (Straßentheater, Band oder Chor), meine Zweier- oder Mehrfach-Beziehung, mein Kind und Familie, der kleine Nebenjob, usw. …, so bunt ist halt das Leben.
Wenn wir versuchen die vorhandenen Gruppenressourcen für die Realisierung der gemeinschaftlich anvisierten Projektziele und inhaltlichen Ansprüche zu ermitteln, tun sich vermehrt genau diese Widersprüche auf. Sicher absolut keine brandneue Erkenntnis, dass die Augen größer sind als der Magen und ohne utopischen Größenwahn hätten wir vieles nicht in Bewegung gesetzt. Gleichzeitig erfordern die parallelen individuellen Bewegungsmilieus ein sehr aufwändiges Zeit- und Energiemanagement und hinterlassen bei der einzelnen Beteiligung eine funktionale Sicht oder zumindest eine starke Begrenzung der persönlichen Einlassung. Gewollt oder ungewollt. Nicht immer, aber immer öfter.
Solidarisches Verhalten, Achtsamkeit, gemeinsame ökonomische Verantwortung, mutige gesellschaftliche oder politische Intervention, abgesehen von hierarchiearmer, antisexistischer, antikapitalistischer oder antirassistischer kollektiver Lebensgestaltung. Das alles verlangt Präsenz, Kontinuität, Hartnäckigkeit und vertrauensbildende Experimentierflächen, die wir immer weniger orten können, jedenfalls für längere Zeit, an einem Ort, in einer Gruppe und an einem Gegenstand. So prägt sich auch deshalb folgerichtig in vielen Projekten ein kleinerer ‚harter Kern’ von Leuten und eine größere Schar von Satelliten auf unterschiedlichen Umlaufbahnen aus. Und im Schlepptau drängen Wissenhierarchie, ungleiche Verteilung der Verantwortung, ausgedünnte persönliche Begegnungszeit, wenig kultivierte Kritik- und Krisenfestigkeit und der Mangel an vorantreibenden Impulsen und umsichtiger Voraussicht unaufhaltsam hinterher.
Alles keine gänzlich neuen Widrigkeiten gemeinschaftlicher Strukturbildung, jedoch eine spürbare Zunahme von dauerhaften Erschwernissen. Erschwernisse, die an bestimmten Punkten selbst die Illusion des Erreichbaren verlöschen lassen.
Die Intensität der ‚normalen’ Alltagsgestaltung für eine sozial und ökonomisch tragfähige individuelle Lebensgrundlage scheinen sich für viele erhöht zu haben. Und genauso auch der von uns kultivierte und belebte solidarische und politische Bereich mit gemeinschaftlicher Ausrichtung. Brauchen unsere Projekte neue Formen der Kooperation, müssen wir unsere angestrebten Ziele und Ansprüche verschlanken? Oder machen wir einfach weiter, denn so viel hat sich ja nicht geändert?
Einmal mehr versucht die Kolumne uns notwendig erscheinende Diskurse anzuregen.